Die Gralstafeln von Chartres sind eine Meditationstechnik, die von französischen Zigeunern aus dem Mittelalter überliefert wurde. Durch Schielen mit den Augen kann in der Mitte eine virtuelle dritte Tafelreihe erzeugt werden, die aus der Bildebene herauszuspringen scheint und zunächst zwischen den Farben Blau und Rot hin- und herpendelt.
Louis Charpentier hat dieses Rätsel in langjähriger Forschungsarbeit zumindest teilweise gelöst: Die drei Tafeln von Chartres sind in der Geometrie der Kathedrale verewigt, sie bilden sozusagen einen unsichtbaren Bauplan, der ihre gesamten Proportionen in entscheidender Weise prägte.
Es beginnt damit, daß der Chor der Kathedrale genau doppelt so lang wie breit ist. Seine abschließende Rundung ist so gewählt, daß der Flächeninhalt genau einem Rechteck mit einem Seitenverhältnis von 2:1 gleicht. Die erste Tafel hätten wir also gefunden.
Konstruiert man nun ein Quadrat mit gleichem Flächeninhalt und legt es in Gedanken auf dem Fußboden aus, so zeigen seine Ecken die Breite des Hauptschiffes an. Seine Seitenlänge ist 23,19 Meter, was einem Zehntel der Grundlinie der Cheopspyramide entspricht.
Ein anschließender gedachter Kreis mit gleicher Fläche endet genau am Hauptportal. Die drei Figuren zusammen bestimmen also die Länge des Kirchenschiffs. Welchen Grund konnten die Erbauer haben, derartige geometrische Formen als Grundlage des Kathedralen Baus zu benutzen? Wir sind hier einer heiligen Geometrie auf der Spur, die uns weit über die Erkenntnisse einer einseitig materialistisch ausgerichteten Wissenschaft hinausführt.
Gemäß einer alten Überlieferung haben drei Tafeln den heiligen Gral getragen, und »ihre Zahl ist 21«.
Die erste Gralstafel ist danach die im Neuen Testament überlieferte rechteckige Tafel, an der Jesus mit seinen Jüngern das letzte Abendmahl feierte. Hatte sie – wie Charpentier vermutet – ein Seitenverhältnis von 2:1, so daß »ihre Zahl 21« war? Weiter heißt es in der Überlieferung, daß Joseph von Arimathäa, der Onkel von Jesus, nach der Kreuzigung das Blut Christi in einer Schale – wiederum ein Symbol des Grals – auffing. Nach seiner Gefangennahme durch die Römer soll Christus ihm im Kerker erschienen sein, um ihm den Auftrag zu geben, in einem anderen Land eine neue, diesmal quadratische Gralstafel zu errichten. Joseph von Arimathäa soll daraufhin die Flucht nach England gelungen sein, und er gilt allgemein als Begründer der ersten Kirchengemeinde in Glastonbury, dem mystischen Avalon der Kelten.
Wir sehen deutlich, wie die drei Gralstafeln einen zunehmenden Prozess der Verweltlichung beschreiben. So ist es nicht verwunderlich, daß der Besucher der Kathedrale von Chartres, wenn er aus der Welt des Profanen in das Kirchenschiff eintritt, zunächst die runde Gralstafel überquert, anschließend die quadratische, während die rechteckige Abendmahlstafel erst hinten im Chor zu finden ist. Noch heute heißt dieser Teil der Kathedrale Kapelle du Saint Sakrament – also des Abendmahls. In früheren Zeiten hat sich hier auch der Altar befunden.
Doch die Geheimnisse der Kathedrale gehen noch weiter: Die Proportionen der Säulen und Galerien stehen zueinander in harmonischen Verhältnissen, die der im Mittelalter üblichen gregorianischen Tonleiter entsprechen. Man weiß, daß sich die Kirche über einem unterirdischen Dolmen befindet, einem uralten keltischen Heiligtum, in dem eine heilige Quelle entspringt. Diente das Kirchenschiff als Resonanzkörper, als eine Art Musikinstrument, das die heilkräftigen Schwingungen aus dem Erdinneren an die Oberfläche weiterleiten und verstärken sollte? Die im 12. Jahrhundert wie aus dem Nichts neuentstandene Bauweise der Gotik mit ihren schwindelerregend hohen Gewölben und fast schwerelos wirkenden Bögen erzeugt in der Tat eine ganz eigene Akustik. Es fällt in diesem Zusammenhang auch auf, daß zwar das Äußere der Kathedrale durch Hunderte von Statuen reich geschmückt ist, während man im Innern nur schlichte, glatte Wände findet. Ganz offenbar sollte die Akustik der riesigen Halle nicht durch überflüssigen Zierrat zerstört werden. Dies blieb erst späteren Baustilen, etwa dem Barock, vorbehalten, als vieles uraltes Wissen längst vergessen war.
Die Technik, durch Spannung in den steinernen Bögen Klangräume zu erzeugen, so wie bei den Saiten eines Klaviers, hat uralte Wurzeln. So steht zum Beispiel in der Nähe des Dorfes St. Just in der Bretagne auf einem Hügel bis heute der Roche de Tréal, ein Dolmen aus der Zeit um 2500 v. Chr., dessen Steine klingen, wenn man sie mit dem Finger oder einem kleinen Stein anschlägt. Durch geomantische Linien ist er verbunden mit weiteren prähistorischen Kultstätten der Umgebung, etwa dem Château Bû, einem in Europa einmaligen Bauwerk aus dem vierten vorchristlichen Jahrtausend. Die Namengebung aus heutiger Zeit ist nur ein Ausdruck der Hilflosigkeit unserer Archäologen, Sinn und Zweck prähistorischer Monumente einzuordnen.